Kräftige Windböen peitschten durch die Baumkrone der alten Linde auf der dunklen Rückseite des Doms. Es war Mitte Mai in Köln, und auch, wenn die Blätter des einsamen Baums noch klein und zart und der Tote unter dem Geäst gut sichtbar war, so beachtete ihn anfangs niemand. Zu schnell bewegten sich die Passanten in der morgendlichen Hektik Richtung Museum Ludwig und Philharmonie und in entgegenkommender Richtung zur Domplatte und zum Hauptbahnhof. Immer wieder schwang der schwere Körper hin und her. Ganz in Schwarz gekleidet, das aufgedunsene Gesicht blau angelaufen, die Stirn von grauen Strähnen bedeckt, baumelte der Körper erstarrt mit angelegten Armen und gestreckten Füßen weiter im kühlen Wind, bis, ja bis ein Obdachloser, der in einer Ecke am Mäuerchen die Nacht verbracht hatte, sich erhob, ängstlich schaute, erschrocken die Hände vors Gesicht schlug und schrie:

„Leute, da hängt jemand!“

Eine junge rothaarige Frau, die mit einem Geigenkasten an ihm vorbeieilte, blieb abrupt stehen, drehte sich um, schaute auf den Obdachlosen und folgte mit ihrem Blick seinem ausgestreckten Arm. Was sie sah, raubte auch ihr den Atem. Der Mann da oben bot einen abscheulichen Anblick. Blut hatte sich aus den aufgerissenen Augen ihren Weg über die Nase zum Mund gebahnt, sich an der heraushängenden Zunge gesammelt und war dann über das Kinn und den Hals in den römischen Stehkragen geflossen, der nun nicht mehr weiß, sondern dunkelrot und verkrustet war. Auch aus den Ärmeln des Hemdes und aus den Hosenbeinen sickerte Blut und machte bei jedem Tropfen, der im Sekundentakt auf eine kleine messingfarbene Grabplatte am Boden fiel, ein klopfendes Geräusch, das die Geigenspielerin mit ihrem exzellenten Gehör zwischen den leichten Regenschauern als einen seltsamen, aber exakten Takt vernahm, der wie ein Metronom klang. Klack-Klack-Klack, hörte sie immer noch in ihrem Kopf, als sie eine dunkle Männerstimme jäh aus ihren Gedanken riss.

„Und was haben Sie dann gemacht?“

Kommissar Bernd Buchwald beugte sich im miefigen Polizeibus, der mit stummem Blaulicht vor dem Domherrenfriedhof stand und von Absperrbändern, Sichtschutzzäunen und weiteren Polizeiwagen umgeben war, zu der Musikstudentin hinüber. Er schaute sie fragend an. Ihre Sitze standen zueinander, in der Mitte war ein kleiner Klapptisch, auf dem ihr Handy und Buchwalds altmodischer Notizblock lagen.

„Na, dann habe ich die 110 gerufen und gewartet. Das hatte ich ja schon erwähnt. Kann ich jetzt zu meiner Probe…“

„Haben Sie…“

„Esther Hilsberg.“

„Haben Sie mit Ihrem Handy Fotos gemacht?“

„Ja, viele. Aber nicht nur ich. Viele Leute haben rumgeknipst und sind dann schnell weg, als die Polizei kam. Auch der Obdachlose ist mit seinen Tüten und seinem Schlafsack weggelaufen.“

„Verdammt“, sagte Buchwald, schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder zurück. „Falls wir noch Fragen haben, melden wir uns. Vielen Dank, Frau Hilsberg.“

Die Studentin nahm ihren Geigenkasten und stieg aus. Sie zog sich gegen die Regenschauer ihre pinkfarbene Beanie ins Gesicht und blickte zu drei Männern in weißen Anzügen, die im Regen auf zwei Leitern standen und die Leiche anhoben, um sie aus der Krone herauszuschneiden und langsam herabzulassen.

„Wer war denn der Tote? War er bekannt?“

„In Köln schon, im Dom auf jeden Fall“, sagte Buchwald, nickte ihr stumm zu und schloss schnell die Schiebetür, weil der erneut einsetzende Regen ins Auto wehte. Er lehnte sich zurück und atmete in der Stille tief durch. Was für ein grauenhafter Fall war das denn wieder? In welchen Film war er da reingeraten?

Er schaute durch die teilweise beschlagene Scheibe auf den Tatort, an dem jetzt nur noch die alte Linde als stumme Zeugin stand. Dieser Mann hatte sich in der Baumkrone direkt am Dom nicht freiwillig erhängt, was schon schlimm genug wäre, sondern er war erhängt worden. Irgendjemand hatte sich jede Menge Arbeit mit ihm gemacht, um ihn zu töten und da hochzuwuchten.

Aber warum? Was war das Motiv? Buchwald grübelte. Das Opfer hieß Karl-Heinz Burg, das wusste er bereits. Denn der Tote war kein Unbekannter, sondern ein prominenter Vertreter der Kirche. Er war Dompropst und damit in einer so exponierten Stellung, dass sein Tod eine große Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Aus der trauernden Kirchengemeinde, dem Erzbistum und der katholischen Kirche bundesweit, ja vielleicht sogar mit einer Kondolenz aus dem Vatikan. Ebenso aus der entsetzten Öffentlichkeit und von vielen Menschen der Kölner Gesellschaft, die den lebensfrohen Gottesmann, der auch in der vergangenen Karnevalssession auf zahlreichen Sitzungen und beim Rosenmontagszug eingeladen war, gut kannten. Und besonders die Presse…

Buchwald knackte nervös mit seinen Fingerknöcheln.  Ein Pfarrer erhängt am Dom – das war ein gefundenes Fressen für die Journaille in dieser sogenannten heiligen Stadt. Diese gottverdammte Presse…

Es hämmerte an der Tür. Carli Zacher, seine engagierte und schlagkräftige Kollegin vom KK11, war da draußen im Einsatz. „Die ersten News laufen schon!“, schrie sie und winkte ihm mit einem grell aufblitzenden Handy durchs Fenster. Dann schlug sie den Kragen ihrer Bomberjacke hoch und eilte mit einem Streifenpolizisten weiter. Buchwald schaute auf sein iPhone, gab bei Google „Köln“ und „Dom“ ein und bekam reihenweise Nachrichtenseiten von Newspepper bis N-TV angezeigt, die neben ihrer Eilmeldung alle schon Fotos hatten, wie die Leiche im Baum hing. Es sah grässlich aus. Der schlaffe Körper mit dem von Blut glänzenden Hemd in der Luft – es sah aus, als ob er geradewegs am Dom vorbei vom Himmel herabfallen würde. Auch wenn das Gesicht verpixelt war, so waren doch die eindeutigen Fakten bereits in die Schlagzeilen gehämmert: „Horror am Dom: Kölner Domprobst erhängt am Domfriedhof. Mord oder Selbstmord?“ Auch poppten im Rahmen der Berichte immer mehr eingebettete Beiträge auf X, Instagram und Facebook auf, die über den Toten vom Dom diskutierten. War es ein Selbstmord aus Reue? Oder ein Racheakt für sexuellen Missbrauch? Oder vielleicht ein Terrorakt? Buchwald sah mit Abscheu, dass sich bereits hunderte Kommentare über den Toten ausschütteten. Von Beileid bis Hasstiraden war wieder alles dabei. Ohne Ahnung, weit weg vom Geschehen. Eben stand er noch da drüben und hatte sich die Leiche angeschaut, wie sie blutend im Regen hing.

Nach Einschätzungen des Gerichtsmediziners, der sich auf einer Leiter die tiefen Einschnürungen des schwarzen Seils am Hals angeschaut hatte, hing der Tote dort schon seit Stunden. Der oder die Täter müssen den Domprobst also in der Nacht unbemerkt aufgehängt haben. Aber wie konnte man das schaffen? Buchwald erinnerte sich, dass er im aufgeweichten Rasen drei Reihen an verwitterten Steinen und Kreuzen gesehen hatte. Unter ihm lag die bekannte Domherrengruft, in der reihenweise Kirchenfürsten ihren Frieden gefunden hatten. Eben stand er direkt über ihnen, in seinen blutverschmierten hellen Lederstiefeln. Jetzt musste er sich tief in ihre Welt, in die Kirchenwelt einarbeiten. Ihm graute vor den unzähligen Ritualen, die diese Kirche beherbergte, und den Geheimnissen, über die die Kirchenvertreter untereinander schwiegen. Buchwald ahnte, dass er auf Mauern des Schweigens treffen würde, die so dick waren wie die des Doms, der sich vor ihm in den grauen Himmel erhob. Normale Beziehungstaten aufzuklären, mit einem Geflecht aus Angehörigen, Vorfällen, Abhängigkeiten, das war schon schwer schwierig genug. Jetzt aber das abgeschottete Domkapitel, wie es in Köln hieß, zu befragen, um einen Mörder zu finden, war eine ganz andere Hausnummer.

„Keine direkten Videokameras am Dom oder auf den Museumsdächern!“, schrie Zacher wieder vor der beschlagenen Fensterscheibe. „Die von den Gleisen am Hauptbahnhof sind zu weit weg. Wir haben nur unsere Kameras auf dem Roncalliplatz und die Baustellen-Kameras vom Dom-Hotel.“

„Alles sofort auswerten!“, schrie Buchwald zurück und raufte sich die Haare. Da klingelte sein Handy. Das Polizeipräsidium. Es war Viviane Tah, die Sekretärin von Smiley, wie er seinen obersten Chef nannte. Weil Fritz Jahnke stets undurchsichtig lächelte. Der langjährige Polizeipräsident verfügte über ein enzyklopädisches Wissen über Täter und Tatorte und unzählige Fälle und hatte sich zudem im Laufe der Jahre ein riesiges Netzwerk an Menschen in wichtigsten Funktionen aufgebaut. Tah stellte durch. „Buchwald!“, sagte der Kommissar und räusperte sich. „Soweit ich weiß, haben wir noch keinen Ansatz für einen konkreten Verdacht.“ Smileys schneidende Stimme klang bedrohlich.

„Das stimmt.“

„Soweit ich weiß, sitzt der Schock im Domkapitel so tief, dass heute keine konkreten Aussagen mehr zu erwarten sind.“

„Das stimmt.“

„Soweit ich weiß, hat der verehrte Erzbischof, der mich eben anrief, eine Nachrichtensperre verhängt. Zudem gibt die Pressestelle des Domkapitels bei Anfragen von Journalisten keinerlei Kommentar ab und weist bei Anfragen auf unsere laufenden Ermittlungen hin.“

„Das stimmt“, wiederholte Buchwald erneut.

„Dann sollten wir jetzt auch mal mit Hochdruck ran, Buchwald! Ganz Deutschland schaut auf uns und erwartet Ergebnisse!“

„Das stimmt.“

„Ermitteln Sie! Morgen früh erwarte ich einen ersten Bericht. Ich lege auf, und Sie legen los!“

Buchwald starrte auf sein Handy. „Ich lege auf und Sie legen los“ war Smileys typischer Abschiedsgruß, wenn ein neuer Fall anstand. Der Erzbischof hatte Smiley direkt angerufen? Auch das war typisch – typisch Köln, wo der Klüngel dichter war als der Stau rund um die seit Jahren gesperrte Trankgasse am Dom. Die Fahrertür sprang.  Zacher stieg ein.

„Anschnallen, wir fahren. Die KTU ist fertig und hat alles rund um den Tatort dokumentiert. Die Leiche ist im Zinksarg und kommt in die Pathologie.“

Sie drehte den Zündschlüssel und gab Gas. Sofort sprang der Scheibenwischer an und fegte den prasselnden Regen weg.

„Heute Nachmittag sollten uns die Videobilder vorliegen. Morgen früh wissen wir Genaueres.“

„Yep!“, sagte Buchwald mit einem ironischen Unterton. „Smiley?“, fragte Zacher und schaute nervös in den Rückspiegel.

„Scheiße!“

Die Kolonne aus Polizeiwagen und weißen Kastenwagen startete und rollte langsam über den Roncalliplatz, um vorm Brauhaus Früh nach links abzubiegen und mit Sirenenalarm Richtung Rheinufer zu fahren.  Doch am Gulliver-Tunnel ging nichts mehr. Alle Straßen waren von Autos verstopft.  Selbst eine Rettungsgasse war nicht mehr möglich. Die Kolonne mit der Leiche steckte unter den Bahngleisen fest. Mit einem Fluch knipste Zacher die Sirene aus, die im Tunnel einen ohrenbetäubenden Lärm machte, und stellte auch den Motor ab.

„Ich hasse Köln“, zischte Buchwald, der sich im Wagen gefangen und hilflos fühlte. Er schaute auf seine Uhr. Er spürte den enormen Druck, der wieder auf ihm lastete. Er wusste, dass die ganze Stadt auf ihn schauen würde. Mal wieder. Jetzt hatte er einen neuen Fall zu lösen, der verdammt kompliziert und unheimlich schien. Wie vor ein, zwei Jahren, als ihn dieser seltsame Fund eines Blindgängers und die Entführung der Bombe fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Dieser verrückte Mond hatte ihm damals jede Menge Tote vorgesetzt, ihn aber auch berühmt gemacht. Buchwald schaute wieder auf seine rotgetränkten Schuhe. Jetzt watete er wieder durch Blut. Aber was machte dieser Mond eigentlich?

Weiter mit Kapitel 2: